Kammermusik im Krisengebiet: Das Molyvos-Festival auf Lesbos – „Schöne Welt, wo bist du?“

Der deutsche Tenor Julian Prégardien steht Mitte August am Hafen von Molyvos und gibt in brütender Mittagshitze den Prometheus im weißen Leinenhemd. „Ich dich ehren? Wofür? Hast du Schmerzen gelindert je des Beladenen? Hast du die Tränen gestillet je des Geängsteten?“ intoniert Prégardien mit großer Emphase das von Schubert zum Klingen gebrachte Goethe-Gedicht. Die in den Höhen so zärtlich-bebende Tenorstimme vermengt sich mit Kindergeschrei und Tellerklappern von der Taverna „Mistral“ gleich nebenan – die typische Atmosphäre eines Molyvos Musical Moments, kleine Pop-up Konzerte mitten im Dorfgeschehen, um die Musik und das Festival den Bewohnern nahe zu bringen.

Warum Kammermusik im politischen Krisengebiet? Macht das Sinn? Für die beiden künstlerischen Leiterinnen des Festivals, den deutsch-griechischen Pianistinnen Danae, 30, und Kiveli Dörken, 26, ist Lesbos nicht irgendein Krisenherd, sondern ein Stück Heimat. Ihre Mutter Lito kommt von hier, als Kinder haben sie die Sommer auf der Insel verbracht, Schwimmen gelernt, die Menschen bedeuten ihnen was. Lange hatten Danae und Kiveli, die inzwischen in Berlin leben und zu international gefragten Pianistinnen aufgestiegen sind, überlegt, wie sie die Insel ihrer Kindheit in ihre heutigen Karrieren wieder stärker einbinden können. 2015 luden sie das erste Mal befreundete MusikerInnen auf die Insel, eher zufällig im Jahr der großen Flüchtlingsströme. Seitdem hat das Festival seine politische Mission Jahr für Jahr in das musikalische Programm integriert. Neben Musik wie in diesem Jahr von Beethoven, Schubert, Ravel oder der griechischen Komponistin Konstantia Gourzi, die eigens für das Festival den Gedichtzyklus „Songs for Hellas“ von Wilhelm Müller vertont hat, ergänzten die Dörken-Schwestern das Festival in den letzten Jahren mit wissenschaftlichen Vorträgen, Kunstausstellungen und Musikprogrammen für Kinder. Danae Dörken erzählt nach dem Abschlusskonzert von einer Freundin, die in Molyvos ein Friseurgeschäft betreibt und sich bei ihr bedankt hat. Sie habe in den letzten Tagen acht Musikern die Haare geschnitten, Kunden, die sie ohne Festival nie gehabt hätte. In der ganzen Diskussion um Lesbos wurden die Einheimischen einfach vergessen, sagt Danae.

Für das Festival wurden viele Freiheitsmelodien neu arrangiert, auch Nicolas Astrinidis Symphonie 1821, so etwas wie die heimliche Nationalhymne der Griechen. Ein ostentativer Auferstehungshymnus, der die griechische Unabhängigkeit nach 400 Jahre türkischer Gewaltherrschaft feiert. Als Julian Prégardien auf griechisch und aus voller Kehle „die holde Freiheit begrüßt“, steht das Publikum im Saal auf, stumm und tief gerührt zugleich, mit Tränen in den Augen. Im Hauptkonzert singt Prégardien verletzlich und flehend aus Schuberts „Die Götter Griechenlands“: „Schöne Welt, wo bist du, wo bist du?“ Wann ist die Krise für Lesbos endlich vorbei?

Thilo Komma-Pöllath